Das Magazin der Friedhelm Loh Group

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Digitale Innovationen
Innovation – Eplan

Welche Potenziale birgt der digitale Zwilling?

Wegbereiter. Der digitale ­Zwilling ist ein Schlüssel für ­Digitalisierung. Er hilft Unter­nehmen, Innovationen zu ­forcieren und die Produktivität zu steigern.

Text Sonja Koesling ––– Fotografie

Glaubt man der Zwillingsforschung, so sind es nicht nur die genetischen Merkmale, die Zwillinge gleich fühlen, denken und handeln lassen, sondern die äußeren Einflüsse ihrer Umwelt: Gemeinsame Erfahrungen prägen das Zwillingspaar auf dieselbe Weise. Bald 150 Jahre untersucht die Wissenschaft das Phänomen Zwilling. Die Forschung um das virtuelle Pendant, den digitalen Zwilling, steckt da vergleichsweise in den Kinderschuhen. Dennoch hat die industrielle Revolution in ihm ihr Konterfei gefunden und feiert den digitalen Zwilling als wichtigen Wegbereiter und Wegbegleiter der Industrie 4.0.

Laut IDC FutureScape 2018 werden bereits in zwei Jahren 30 Prozent der weltweit 2.000 größten Unternehmen Daten digitaler Doppelgänger nutzen, um die Erfolgsrate bei Produktinnovationen sowie die Produktivität in der Organisation zu verbessern. Das Marktforschungsunternehmen prognostiziert eine damit verbundene Produktivitätssteigerung von bis zu 25 Prozent. Und auch das Marktforschungsunternehmen Gartner sieht die Entwicklung positiv: Gartner schätzt, dass 2021 bereits die Hälfte der großen Industrieunternehmen mit den virtuellen Avataren arbeiten und dadurch eine Produktivitätssteigerung von bis zu zehn Prozent erzielen werden.

Neue Wertschöpfung

„Der digitale Zwilling öffnet Industrieunternehmen die Tür für neue, spannende Geschäftsfelder“, sagt auch Prof. Dr. ­Rainer Stark. Als Leiter des Fachgebiets Industrielle Informationstechnik der Technischen Universität Berlin und Direktor des Geschäftsfeldes Virtuelle Produktentstehung des Fraunhofer-Instituts für Produktions­anlagen und Konstruktionstechnik forscht er seit zehn Jahren auf diesem Gebiet und weiß: „Bislang fand die Wertschöpfung ausschließlich in der realen Welt statt. Der ­digitale Zwilling legt nun den Grundstein dafür, dass Unternehmen Informationen aus dem wahren Produktleben zurückgespiegelt bekommen und diese weiterverarbeiten können. Damit erhalten Modelle, die bislang lediglich am Beginn der Entwicklungskette standen, einen neuen Wertschöpfungsanteil und begleiten ein Produkt über den gesamten Lebenszyklus hinweg.“

In der Automobilbranche könnte dies beispielsweise ein individuelleres Fahr­erlebnis fördern, indem zusätzliche Funktionen aufgeschaltet werden, die zum Fahrstil passen. Oder Erkenntnisse aus der Nutzung könnten in das Design weiterer Modelle fließen. In der Fertigung könnten Abweichungen zur Norm schneller festgestellt und behoben werden, weil beispielsweise Werkzeugverschleiß frühzeitig identifiziert würde. Auch Ad-hoc-Änderungen von Produktionsabläufen wären denkbar, deren Effekte vor Inbetriebnahme simuliert werden. Der Branchenverband Bitkom glaubt, dass 2025 alle digitalen Zwillinge in der Fertigungsbranche zusammen ein wirtschaftliches Potenzial von über 78 Millionen Euro aufweisen werden.

Ein empathisches Wesen

Möglich macht dies das Wesen des digitalen Zwillings. „Der digitale Zwilling hält durchaus eine Varianz an Interpretationsformen bereit“, erklärt Stark. „Unserer Definition nach handelt es sich um das digitale Abbild eines bestimmten Produktes, das dessen Eigenschaften, Zustand und Verhalten durch Modelle, Informationen und Daten erfasst. Die Basis bildet ein digitaler Master. Er ist das ur-virtuelle Modell, nach dem das Produkt gefertigt werden soll.“ Im digitalen Master legen die Entwickler die Intension des Produktes fest, bestimmen, wie dieses aussehen und wie es funktionieren soll. Anschließend wird der digitale Master um Eigenschaftsmodelle angereichert: Diese Berechnungsmodelle geben Auskunft darüber, was beispielsweise passiert, wenn das Produkt in Schwingung versetzt wird, wie es auf Stöße oder Kollisionen reagiert oder wie sich das Produkt öffnen und wieder schließen lässt.

Effiziente Abbilder

Die Einsatzbereiche für digitale ­Abbilder sind vielfältig, wie die folgenden drei Beispiele aus ver­schiedenen Branchen zeigen:

Im Wasser
Kreuzfahrten erfreuen sich wachsender Beliebtheit. Die Instandhaltung der Schiffe ist teuer. Daher möchte General Electric die Cruiser mit Sensoren ausstatten, die den Verschleiß messen und dabei auch Wetterdaten einbeziehen. Ein digitaler Zwilling des Frachters soll so Wartung und Reparaturen vereinfachen, indem Techniker schon vor Einlaufen des Schiffes mögliche Problemlösungen am virtuellen Avatar durchgespielt haben.

Zu Fuß
Individuell in Material, Farbe und Passform – so wünschen sich ­Modebewusste ihre Turnschuhe. Um Kundenwünsche flexibel umsetzen zu können, entwickelt Adidas gemeinsam mit Siemens einen digitalen Zwilling der Speedfactory, einer Produktionsstätte von Adidas. So soll künftig der gesamte Fertigungsprozess simuliert, getestet und optimiert werden können. Die Sportindustrie: ein Vorreiter für die Losgröße 1.

Unter der Haut
Die Charité Berlin bringt Biologie und Informatik zusammen: Gemeinsam mit dem Biotechnologieunternehmen Alacris Theranostics stellen sie den digitalen Zwilling einer Krebszelle von Hautkrebspatienten her und testen an ihm die Wirkung verschiedener Medikamente. Wirkt das Medikament, wird es dem ­Patienten verabreicht. Erste Behandlungen verzeichneten Erfolge.

„Für einige ist das bereits der digitale Zwilling“, sagt Stark. „Doch unsere Definition endet hier noch nicht: Jedes Produkt erzeugt einen digitalen Schatten aus Betriebs-, Zustands- oder Prozessdaten. Erst wenn man eine Kopplung herstellt, also eine intelligente Verknüpfung zwischen dem digitalen Master und dem digitalen Schatten schafft, dann sprechen wir von einem echten digitalen Zwilling.“

Der digitale Master wird also um Echtdaten aus der Nutzung des realen Produkts angereichert und erlaubt es so, Rückschlüsse zu ziehen sowie Änderungen oder Optimierungen zu testen und vorzunehmen.

Das Konzept kann allerdings nur dann funktionieren, wenn Unternehmen einen softwarebasierten Designansatz verfolgen. „Viele Maschinen- und Anlagenbauer setzen aktuell noch auf einen mechatronischen Designansatz, bei dem der funktionalen Integration direkt die physische Integration in Form eines Prototyps folgt“, sagt Stark. Das Gros der Unternehmen wird umdenken müssen, wenn es die digitale Transformation bewerkstelligen möchte. Gelingen wird sie nur, wenn starre Prozessketten aufgebrochen und durch funktionale Einheiten ersetzt werden, die miteinander kommunizieren. Der Schlüssel für eine einheitliche Sprache liegt in der Standardisierung von Datenformaten. Die Datenstruktur: die DNA des digitalen Zwillings.

Reine Verhandlungssache

Wie die vertikale Datenintegration im Engineering- und Produktionsprozess aussehen kann, erarbeitet das Technologienetzwerk Smart Engineering and Production 4.0. Am Beispiel eines Schaltschranks erschaffen die Partner Eplan, Rittal und Phoenix Contact einen digitalen Zwilling, der das Produkt über den kompletten Lebenszyklus hinweg begleiten soll – von der Entwicklung über die Inbetriebnahme bis hin zur Anlagenbedienung und Wartung. „Die Grundlage bilden digitale Artikelbeschreibungen, die die einzelnen Bestandteile des Produktes sowie seine Funktionen und Besonderheiten bis ins Detail beschreiben“, erklärt Thomas Weichsel, Produktmanager bei Eplan. „Da sich eCl@ss hier weltweit als normkonformer Standard für die Klassifizierung und eindeutige Beschreibung von Produkten etabliert, speisen Komponentenhersteller die Artikeldaten bereits in diesem Format in das Eplan Data Portal ein.“ „Für uns als Unternehmen stellt dies einen praktischen Zusatznutzen dar“, ergänzt Dr. Andreas Schreiber von Phoenix Contact, „da sich so – beispielsweise durch das Einscannen eines QR-Codes – auf sehr einfache Weise Produktinformationen abrufen lassen.“ Das große Potenzial sieht der Leiter Business & Product Innovation in der effizienteren und transparenteren Gestaltung des gesamten Produktlebenszyklus, da alle relevanten Merkmale eines Produkts für die Prozesse im Engineering und auch in der Produktion standardisiert verfügbar sind. „So müssen sie nicht mehr im Nachgang zeitaufwendig manuell ermittelt und eingepflegt werden“, sagt Schreiber. Mit der Software Eplan Pro Panel konstruiert der Schaltschrankbauer also ein 3D-Modell, das bereits alle Informationen über die einzelnen Drähte, Betriebsmittel, Klemmen, Drahtbrücken und Beschilderungen oder die notwendigen mechanischen Bearbeitungen der Komponenten bereithält. Der digitale Master ist definiert.

Verbindendes Element

„Nun gilt es, den digitalen Prototyp mittels herstellerneutraler Schnittstelle in die ­Produktion und zum Beispiel in ein intelligentes Fertigungsleitsystem einzubetten“, erklärt Weichsel. Dieses prüft dann, welche Fertigungsschritte erforderlich sind, ob die Fertigung die Anforderungen für den jeweiligen Fertigungsschritt erfüllen kann und in welcher Reihenfolge sich diese umsetzen lassen. „Es geht immer darum, die Daten im Engineering zu nutzen und in einer ­Maschinensteuerung zur Fertigung um­zusetzen. So können Bauteile für die ­mechanische Bearbeitung vorbereitet, Tragschienen korrekt gelängt und Klemmen nach Vorgabe auf diese montiert werden“, so Jan-Henry Schall, Leiter des Rittal Innovation Centers.

Soll dieser Schritt automatisiert erfolgen, müssen das Leitsystem und die Maschinen miteinander kommunizieren und über die anstehenden Aufgaben verhandeln. „Hier nutzen wir Erkenntnisse aus dem Projekt open Asset Administration Shell der RWTH Aachen und des Industrieverbands ZVEI, die gemeinsam mit Unternehmen aus dem Maschinenbau und der Elektroindustrie daran arbeiten, Industrie 4.0 in die Praxis umzusetzen. Wir erweitern diese Erkenntnisse um spezielle Anwendungsfälle aus dem Schaltanlagenbau“, berichtet Weichsel. open Asset Administration Shell definiert sogenannte Verwaltungsschalen aller am Prozess beteiligten Systeme, Maschinen und Komponenten einer Wertschöpfungskette, die miteinander in Verhandlung treten. „Bewegen wir uns auf einem einfachen Level, funktioniert das bereits heute“, so Weichsel. Ziel ist es, dass Systeme auf diese Weise künftig auch hochkomplexe Prozesse und Produktionsabläufe verhandeln können. Dazu gehört etwa, dass Erkenntnisse aus der Produktion in die Entscheidungen im Engineering einfließen und dieses dann positiv beeinflussen. „Aktuell ist das noch Zukunftsmusik“, sagt Weichsel. „Die ersten Akkorde haben wir bereits auf der Hannover Messe erklingen lassen.“

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