Das Magazin der Friedhelm Loh Group

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Globale Lieferengpässe
Praxis – Anlagenbau

Wenn's richtig eng wird

Anlagenbauer benötigen aktuell vor allem eins: gute Nerven. Denn durch Corona sind Lieferanten und Logistikketten weltweit im Krisenmodus. Globale Versorgungsengpässe blockieren Fertigungsabläufe und verhindern die pünktliche Auslieferung ganzer Anlagen. Wie geht ein Unternehmen wie ATR Industrie-Elektronik GmbH damit um? Und was tut Rittal alles in dieser schwierigen Zeit, um vollumfänglich lieferfähig zu bleiben?

Text Michael Siedenhans, Hans-Robert Koch ––– Fotografie

Ohne sie funktioniert die globale Liefer­kette nicht: (Titelbild) Container­schiffe, Fracht­flug­zeuge, Güter­züge, Lkw und Kurier­fahrzeuge, die Roh­stoffe aus den produzierenden Ländern abholen und an die weiter­ver­arbeitenden Betriebe und ihre Kunden ausliefern. Sie sind aktuell nicht ausreichend auf dem Welt­markt vorhanden.

Die Pandemie stellt die Beziehung zwischen Anlagebauern und ihren Endkunden enorm auf die Probe: Obwohl die Auftragsbücher voll sind, blockieren Versorgungsengpässe die fertigende Industrie weltweit. Verschiedene Faktoren sind dafür verantwortlich: Häfen oder Betriebe in Produktionsländern wie China, Malaysia und Vietnam müssen aufgrund von Corona geschlossen werden. Europäische Abnahmeländer können wiederum nicht genügend Schiffe, Container, Piloten und Hafenarbeiter, Lkw-Fahrer aufbieten, um die Rohstoffe und Waren aus den produzierenden Ländern abzuholen und dann an die weiterverarbeitenden Betriebe und Kunden in den heimischen Märkten auszuliefern. Ganz zu schweigen von den steigenden Kosten: So ist inzwischen der Preis für den Transport eine Schiffscontainers von Shanghai nach Rotterdam um das Siebenfache angestiegen.

DIE SITUATION: ANLAGENSTAU UND MEHRKOSTEN

Diese Situation trifft auch die Branche des Steuerungs- und Schaltanlagenbaus. Zum Beispiel die ATR Industrie-Elektronik GmbH in Krefeld. Das Unternehmen ist spezialisiert auf die Fertigung von Schaltanlagen, Steuerungsanlagen und Schaltschränken. Es genießt ein hohes Vertrauen in der Branche. Doch aktuell erlebt ATR wie viele andere Unternehmen auch extreme Versorgungsengpässe. Probleme bei der weltweiten Chip-Herstellung führen beispielsweise dazu, dass elementare elektronische Bauteile für den Anlagenbau auf dem Markt einfach fehlen.

„Auf Komponenten, die wir vorher innerhalb von ein bis zwei Tagen erhalten haben, müssen wir heute bis zu 200 Arbeitstage warten. Diese Situation haben wir bei ATR so noch nicht erlebt“, beschreibt Timo Amels die Lage. Und die habe enorme Auswirkungen, so der Geschäftsführer der ATR Industrie-Elektronik GmbH: „Unsere Fertigungsabläufe sind blockiert, halb fertige Anlagen müssen zwischengelagert werden und manchmal können ganze Anlagen nicht ausgeliefert werden, weil einzelne Bauteile fehlen. Das bedeutet für uns in Summe deutliche Mehraufwände und Mehrkosten.“

 

DIE MASSNAHME: FLEXIBLE PLANUNG UND FERTIGUNG

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Branchen beliefert ATR von Krefeld aus: Automotive, Energie, Kunststoff, Metall und Papier. Das Unternehmen gehört zur weltweit agierenden Siempelkamp-Gruppe.

Und wie reagiert das Management darauf? „Uns bleibt nur die Möglichkeit der Eskalation. Wir führen mit allen unseren Lieferanten wöchentliche Telefonate. Nur über Eskalationsstufen und Priorisierungen erreichen wir, dass wir unser Vormaterial erhalten. Doch das bindet enorm viel Kraft und Ressourcen“, betont der Manager. Mehr als je zuvor müsse man nun in Planung und Fertigung flexibel agieren – das gelte auch für Bereiche wie die Warenannahme. Aufgrund der angespannten Liefersituation stehe jetzt jeden Samstag Personal bereit, um keine Warenanlieferung zu verpassen. „Ansonsten können wir womöglich wieder 200 Arbeitstage warten“, stellt Amels nüchtern fest.

DIE VORAUSSETZUNG: AUSREICHENDE BESTÄNDE AUF LAGER

So lange muss kein Kunde von Rittal warten: Die Lieferfähigkeit des Unternehmens ist in dieser Zeit eine Besonderheit im Markt. Und dafür leistet Rittal enorm viel, manchmal bis ans Limit. Aber wie gelingt es Rittal, in kürzester Zeit lieferfähig zu sein? Möglich machen das ein Versorgungsnetzwerk mit festen Lieferanten weltweit und die Global Distribution Center (GDC) in Haiger und Rittershausen, wo jederzeit etwa 98 Prozent der Serienartikel verfügbar sind. So kann Rittal sein Lieferversprechen nicht nur für Deutschland halten, sondern auch für seine Tochtergesellschaften wie z. B. Belgien, den Niederlanden oder Österreich.

Rittal kann schnell auf die Bedarfe seiner Kunden reagieren, weil beispielsweise das GDC Haiger einen großen Bestand an Produkten und Waren vorhält. Allein aus diesem GDC gehen täglich 55 Lkw auf Reisen und aus dem GDC Rittershausen nochmals 70 Lkw. An Bord haben sie Großschränke oder Klein- und Kompaktgehäuse mit Zubehör. „Was wir können, ist für einen industriellen Logistiker ungewöhnlich, schafft uns aber flexible Handlungsspielräume und einen Wettbewerbsvorteil“, sagt Christine van den Berg, die bei Rittal als Geschäftsbereichsleiterin für die globale Logistik sowie deren Planung und Disposition verantwortlich ist. Damit sich Kunden auf das Lieferversprechen verlassen können, müssen die Bestände immer ausreichend vorrätig sein. Dafür arbeiten Einkauf, Produktion und Materialplanung Hand in Hand. Vor allem auf den Einkauf kommt es an: Er muss dafür sorgen, dass die benötigten Rohstoffe für die Produktion auf Lager sind.

DER EINKAUF: WARENSTRÖME STEUERN UND KOORDINIEREN

Das ist der Job von Thomas Weber, Vice President Global Sourcing & Procurement von Rittal, und seinem Team. Die globalen Lieferengpässe haben die erfahrenen Beschaffungsexperten vor nie zuvor geahnte Herausforderungen gestellt: „Kaum hat der Tag angefangen, ploppen Fragen auf wie: Wo fehlt welches Material? Warum fehlt es? Und wie viel Zeit haben wir, um zu reagieren?“

Häufig mangelt es an Vorprodukten, die nicht geliefert werden. Eigentlich Kleinigkeiten. Sie werden aber dringend für die Weiterverarbeitung benötigt. Deutsche Kunden warten händeringend auf die fertigen Produkte. „Die Corona-Krise hat gezeigt, dass wir viel intensiver in die Lieferkette aus der dritten und vierten Ebene eingreifen müssen“, erzählt Weber. Mit anderen Worten: Er und sein Team telefonieren täglich mehrmals mit Ansprechpartnern in Fernost, um ein Lieferproblem zu lösen. „Und das schaffen wir eigentlich immer.“

DIE GRUNDLAGE: INNOVATION UND TRADITION KOMBINIEREN

In der Abteilung Global Sourcing & Procurement im Herborner Headquarter sind 46 Mitarbeitende tätig, die nationale und internationale Warenströme steuern, kontrollieren und koordinieren – von Stahlblech und Kunststoff oder Kartonagen bis zu Elektronik-Bauteilen. Das geschieht meist digital. Dabei kommen smarte Software-Tools zum Einsatz, die frühzeitig über drohende Lieferengpässe informieren. Ebenso wichtig sind der Kontakt und das persönliche Gespräch mit bewährten und vertrauensvollen Lieferanten. Diese Kombination aus Innovation und Tradition sei die Grundlage für die Lieferfähigkeit von Rittal, so Weber.

Mit einem webbasierten Monitoring-Tool beispielsweise überwacht der Einkauf weltweit Lieferketten und Lieferanten und meldet sofort, falls Katastrophen wie ein Erdbeben, Brand in einer Chemiefabrik oder Schiffsunfälle eine Lieferung gefährden. Es signalisiert aber auch wirtschaftliche Probleme von Lieferpartnern. Dieses Frühwarnsystem schafft Transparenz bei den Lieferketten. Sobald eine News auf dem Bildschirm aufblinkt, können Weber und sein Team sofort reagieren. Sie greifen zum Telefonhörer oder hauen in die Tasten, um Bestellungen anderswo zu disponieren oder umzulenken.

DIE ROHSTOFFMÄRKTE: TRENDS ERKENNEN

Mithilfe des Tools ist der Lieferstatus von mehr als 500 wichtigen Zulieferern und Produzenten immer im Blick. Dazu gehören Hersteller in Israel oder Bosnien und Herzegowina, aber auch Stahlwerke in Indien, Brasilien oder der Türkei, von denen Rittal jährlich Stahl im sechsstelligen Tonnen-Bereich bezieht „Die Situation auf dem Stahlmarkt ist nach der Hochphase des weltweiten Lockdowns wieder stabil“, erzählt Weber. „Aber selbst als es weltweit eng war, hatten wir weniger Probleme als andere, weil wir in der Branche als zuverlässiger und finanzstarker Abnehmer von großen Kontingenten bekannt sind. Das kann nicht jeder.“

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wichtige Zulieferer und Produzenten hat Rittal täglich im Blick.

Dagegen sei die Situation auf dem Weltmarkt für Kunststoffgranulate und elektronische Vorprodukte angespannt. „China kann momentan keine schwer entflammbaren Kunststoffadditive liefern.“ Gemeinsam mit den Experten aus Forschung & Entwicklung sowie dem Qualitätsmanagement von Rittal ist Weber daher auf der Suche nach Ersatzwerkstoffen und Alternativen, die den Qualitätsanforderungen von Rittal entsprechen. Die Software bietet noch einen Service: Sie generiert aus der Masse an Daten, die ihr zur Verfügung stehen, Trends und Prognosen für die weltweiten Rohstoffmärkte. Diese beobachtet Weber sehr intensiv: „Dieser Blick in die Zukunft ist extrem wichtig, um rechtzeitig Rohstoffe und Waren zu ordern, damit unsere Produktion immer stabil läuft und wir eine hohe Bevorratung garantieren können.“

DIE BASIS: LANGE PARTNERSCHAFTEN

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Mit 70 Prozent seiner Lieferanten arbeitet Rittal seit mehr als zehn Jahren zuverlässig und vertrauensvoll zusammen.

Ein weiterer wichtiger Faktor für die Lieferfähigkeit von Rittal sind traditionelle und lange Partnerschaften mit Lieferanten aus Deutschland und Europa. „Mit 70 Prozent unserer Lieferanten arbeiten wir schon seit mehr als zehn Jahren zuverlässig und vertrauensvoll zusammen. Der klassische Rittal-Partner ist ein inhabergeführtes Unternehmen mit bis zu 2.000 Mitarbeitern – ähnlich wie bei Rittal“, erzählt Weber. So sei über die Jahre ein gegenseitiges Vertrauen entstanden mit dem Effekt: Aktuelle Lieferengpässe werden gemeinsam gelöst. „Nach wie vor können wir alle noch nicht fassen, was derzeit passiert. Dass man auf ein Produkt bis zu 70 Wochen warten muss, hat es einfach noch nie gegeben.“

DIE GEGENWART: VORMATERIAL AUS EUROPA GEFRAGT

Material und Rohstoffe aus dem europäischen Ausland haben vermutlich deswegen Konjunktur: Sie sind aufgrund der kurzen Lieferwege schneller lieferbar als ihre Konkurrenzprodukte aus China. Dieser Trend wird nach Ansicht von Weber anhalten: „Die Nachfrage nach Produkten und Material aus Europa wird steigen, weil sie nachhaltiger sind wegen der kürzeren Transportwege sowie umweltgerechten und fairen Produktion.“ Rittal hat das schon frühzeitig erkannt. Das ist ein Grund, warum man aktuell bedarfsgerecht produzieren kann und jederzeit lieferfähig ist. Eine Sorge, die Weber derzeit umtreibt, ist der Brexit und seine Auswirkungen auf den britischen Inseln: „Uns fehlen dort Fahrer. Deswegen liefern wir unsere Waren und Produkte nach Großbritannien direkt von unserem Hub in Deutschland aus.“

DER AUSBLICK: FAMILIENUNTERNEHMEN SIND SCHNELLER

Auch nach dem Brexit können sich die britischen Kunden darauf verlassen, dass Rittal lieferfähig ist, auch wenn es manchmal schwierig ist. Selbst in der Zeit der globalen Lieferengpässe hält Rittal sein Lieferversprechen. Das weiß auch Timo Amels. Die vergangenen Monate haben dem ATR-Geschäftsführer nochmals deutlich gemacht: „Familienunternehmen haben die Lieferfähigkeit besser im Griff als andere Lieferanten. Sie haben sich mit einer großen Lagerbevorratung gut abgesichert.“ Sie handeln vorausschauend und sind einfach schneller als andere, so das Fazit von Amels: „Rittal ist daher ein wichtiger und vertrauenswürdiger Partner, der uns gerade in dieser Situation extrem hilft.“

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