Text Gerald Scheffels, Hans Robert Koch ––– Fotografie
Verteilen war einmal. Über Jahrzehnte wurde Energie tatsächlich einfach verteilt, in eine Richtung, von den kontinuierlich laufenden Kohle- und Atomkraftwerken über Umspannwerke bis – mehrfach heruntertransformiert – zu den Endverbrauchern. Aus dieser ruhigen „Einbahnstraße“ ist, um im Bild des Straßenverkehrs zu bleiben, ein belebtes Straßennetz in Innenstadtlage geworden. Der aktuelle Energie-Mix wechselt stündlich mit Wind und Wetter, eine verlässliche Grundlast gibt es kaum noch. Außerdem speisen Windkraft- und Solaranlagenbetreiber dezentral auf Mittel- und Niederspannungsebene ein, das Stromnetz arbeitet jetzt also im Zweirichtungsbetrieb. E-Auto-Ladestationen und Wärmepumpen sorgen für zusätzlichen Verbrauch, und auch die altbekannten Lastprofile mit dem „Peak“ am frühen Abend haben keine Gültigkeit mehr. Die Qualität der Versorgung muss aber immer gewährleistet sein, ebenso die 50-Hz-Frequenz.
Netzbetreiber stehen vor einer Mammutaufgabe. Sie müssen ihre Netze für diese komplexen Anforderungen fit machen. Für naturenergie netze gehört dazu der Neubau, aber auch die Modernisierung einiger bestehender Umspannwerke. Dabei besteht die Herausforderung nicht nur darin, die Werke an den steigenden Strombedarf anzupassen. Sie müssen vielmehr für eine weitaus größere Flexibilität ertüchtigt werden, was Energiequellen und -flüsse sowie die exakte Steuerung des Stroms betrifft.
EIN DIGITALER ZWILLING
Die naturenergie netze (siehe Kasten unten) hat sich frühzeitig darauf eingestellt und arbeitet aktuell an einem Pilotprojekt im Rahmen der Modernisierung einer Anlage. Der Umbau des Umspannwerks Rheinfelden wird dabei mit einem digitalen Konzept geplant und projektiert. Neu ist die Vorgehensweise bereits bei der Vorarbeit. Rainer Beck, Koordinator im Bereich Netzentwicklung: „Bevor wir in die Planung gehen, erstellen wir einen digitalen Zwilling des Umspannwerks, also ein virtuelles Abbild mit allen Daten sowohl für die stromführenden Komponenten – die Primärtechnik – als auch für die Steuerungsebene – die Sekundärtechnik – und natürlich für die Gebäude mit der gesamten Peripherie. Dieser digitale Zwilling ist die Grundlage für unsere Umbauplanung.“
Diese Aufgabe ist auch deshalb anspruchsvoll, weil Primär- und Sekundärtechnik mit unterschiedlichen CAD-Software-Tools geplant werden. Lösbar wurde sie bei diesem Pilotprojekt dadurch, dass sich zwei führende Anbieter – entegra mit der Software-Lösung primtech für die Primärtechnik und Eplan für die Sekundärtechnik – in dem VDE ETG-Arbeitskreis „Digitale Zwillinge für Elektrische Energiesysteme“ auf eben das vorbereiteten, was naturenergie netze für den ersten (Vor-)Planungsschritt benötigte: die Zusammenführung von Primär- und Sekundärtechnik in einem einheitlichen Modell.
DEUTLICHER EFFIZIENZGEWINN
Für dieses bislang einmalige Vorhaben suchten entegra und Eplan nach einem innovativen Verteilnetzbetreiber, der als Dritter im Bunde ein Pilotprojekt einbringt. Da kam der Kontakt zu naturenergie netze gerade recht – zumal es sich um ein komplexes Projekt handelt. Rainer Beck: „Wir werden hier die gesamte Sekundärtechnik in einem vorhandenen und sehr komplexen Umspannwerk erneuern – und das bei laufendem Betrieb.“ Der Anreiz, sich an diesem Projekt zu beteiligen, ist offensichtlich: „Die Planung und Umsetzung der Modernisierung würde normalerweise zwei bis drei Jahre dauern. Mit der neuen Planungsmethodik wird es deutlich schneller gehen.“ Davon sind alle Beteiligten überzeugt. Matthias Schuy, Business Development Manager bei entegra: „Was wir hier machen – Primär- und Sekundärtechnik eines Umspannwerks in einem digitalen Zwilling zu integrieren –, ist bisher einzigartig und verspricht großen Nutzen.“ Kann man das konkreter fassen? Rainer Beck: „Natürlich. Schließlich müssen wir nachweisen, dass sich der Einmalaufwand, den wir investieren, schnell amortisiert. Nach der ersten Projektphase der Vorplanung zeichnet sich eine deutliche Zeiteinsparung beim Umbau von Umspannwerken ab – und das bei jedem Projekt.“
EIN MODELL FÜR ALLE NUTZER
Im ersten Schritt des Projekts wurde das Umspannwerk gescannt, die Typenschilder wurden fotografiert und die erzeugten Primärtechnik-Daten mit denen aus dem Asset-Management-System abgeglichen. Als Ergebnis entstand ein valides, funktionales primtech-3D-Modell des Umspannwerks. Die in primtech erstellten Datensätze wurden dann über eine Schnittstelle vollautomatisch zu Eplan exportiert. Darauf basierend wurde die Sekundärtechnik in Eplan geplant. Abschließend wurden die Daten aus der Sekundärtechnik in den digitalen Zwilling integriert. Diese Arbeiten sind nahezu abgeschlossen. Mit der Dokumentation des Ist-Zustands wurde die Basis für den effizienten Austausch der Sekundärtechnik des Umspannwerks gelegt. „Das ist ein ganz wichtiger Schritt. Alle Daten sind verifiziert. Grundsätzlich wird das Prinzip ‚Single Source of Truth‘ beachtet. Dabei bleiben die Daten in den ursprünglichen Systemen unangetastet und werden mit dem digitalen Zwilling verknüpft. So lassen sich Redundanzen vermeiden, die zukünftig problematisch werden könnten“, erklärt Jan Oliver Kammesheidt, Global Vertical Market Manager Energy bei Eplan.
Bei der Architektur des gemeinsamen Datenmodells haben die Beteiligten – ganz im Sinne des Zwillingsgedankens – eine besondere Infrastruktur verwirklicht. „Es gibt nicht ein führendes System, sondern nur verschiedene Sichtweisen auf ein und dasselbe Modell. Der digitale Zwilling macht jeweils ein Fenster auf zu den Systemen – zum Beispiel von primtech zu Eplan oder zu SAP. Damit erfüllt der digitale Zwilling eine seiner wesentlichen Funktionen, nämlich an zentraler Stelle Zugriff auf alle relevanten Informationen des Umspannwerks zu bieten“, sagt Matthias Schuy.