Text Sophie Bruns ––– Fotografie
Es ist 18 Uhr, Zeit für das Abendessen. Hermann Müller* sitzt am Tisch und freut sich auf ein Glas Wein zum Käsebrot. Doch das Pflegepersonal muss ihm diesen Wunsch abschlagen. Seit Jahren ist der 88-Jährige alkoholabhängig. Doch weil er vor einigen Jahren an Demenz erkrankte, versteht er nicht, warum er keinen Wein trinken darf. Um ihn nicht jeden Tag zu enttäuschen, reichen ihm Altenpfleger und Familie stattdessen Traubensaft.
Der Fall Müller ist Tatjana Arnold, Expertin für Suchtprävention im Suchthilfezentrum Wetzlar, im Gedächtnis geblieben. „Dort haben alle Beteiligten an einem Strang gezogen“, erinnert sich Arnold. „Doch leider hat nicht jeder Pflegebedürftige ein so aufmerksames und stabiles Umfeld.“ Der kleine Schnaps gegen den Rheumaschmerz, Melissengeist vor dem Einschlafen oder zu viele Schmerzmittel – Sucht im Alter ist ein Thema, das durch die alternde Gesellschaft zunehmend Relevanz erhält. Auch weil neue Risikofaktoren hinzukommen: Oft haben die Tage keinen vorgegebenen Rhythmus mehr, die Wohnung ist leer, weil der Ehepartner gestorben ist, die Kinder sind für einen neuen Job in eine andere Stadt gezogen.
Doch auch Krankheiten und ihre Behandlung bergen ein Risiko. Oft tauschen sich Ärzte nicht über gemeinsame Patienten aus. Im schlimmsten Fall verschreiben sie unabhängig Medikamente und Dosen, die dem Senior durch Wechselwirkungen schaden.
AUFMERKSAMKEIT IST WICHTIG
Ein weiteres Problem: Mit den Jahren verringert sich die Fähigkeit des Körpers, Suchtstoffe zu verarbeiten. „Die vom Körper tolerierbaren Mengen an Alkohol und Medikamenten werden geringer. Der Körper verarbeitet diese Stoffe im Alter ganz anders als in jungen Jahren“, erklärt die Gerontologin Martina Schäufle von der Universität Mannheim.
Erschwerend kommt hinzu: Ältere Generationen sind oft mit der Einstellung aufgewachsen, dass persönliche Probleme nicht thematisiert werden. Sehen die Angehörigen ihre Eltern oder Großeltern nur selten, ist es schwer einzuschätzen, wie es diesen tatsächlich geht. Regelmäßigere Besuche sind aber oft nicht möglich, weil viele Angehörige in Zeiten steigender beruflicher Mobilität weit entferntleben.
Hinzu kommt, dass das Pflegepersonal häufig nicht ausreichend auf den Umgang mit Suchtproblemen vorbereitet ist. Um hier anzuknüpfen, beschäftigte sich die Suchthilfe Wetzlar e. V. als eine der ersten Institutionen mit dem Thema Suchtprävention bei Senioren. Unterstützt vom Ministerium für Soziales und Integration entwickelte sie ein Konzept zum Coachen von Pflegekräften.
„In Deutschland ist das Thema – trotz steigender Tendenz – nicht ausreichend bekannt. Mein Ziel ist es, schon Auszubildende zu sensibilisieren, damit sie Suchtgefahren und Abhängigkeiten im Alter erkennen“, erläutert Arnold. Inzwischen ist das Konzept mit standardisierten Arbeitshilfen und Seminarangeboten auch in der Fortbildung von Fachkräften in der Altenhilfe und -pflege verankert. Aus der Zusammenarbeit mit Partnern in der öffentlichen Verwaltung, Hilfswerken und Einrichtungsträgern ist ein unterstützendes Netzwerk entstanden.
Auch deshalb wandte sich die Suchthilfe Wetzlar an die Rittal Foundation, als die Projektförderung durch das Ministerium Ende 2017 auslief. „Mit rund 20.000 Euro haben wir die Arbeit des Suchthilfezentrums in den letzten zwei Jahren unterstützt. Für uns ist das Thema Suchtprävention von Jugendlichen schon lange ein Arbeitsschwerpunkt. Süchtig können aber eben nicht nur junge Menschen werden, sondern auch alte“, sagt Friedemann Hensgen, Vorstandsvorsitzender der Rittal Foundation.
Für die kommenden Jahre hat sich die Suchthilfe Wetzlar zwei Ziele gesetzt. Zum einen soll der Kenntnisstand in der Altenhilfe sowie den Arztpraxen ausgebaut werden. Darüber hinaus ist es ein Anliegen, Familie und Freunde zu sensibilisieren. „Viele Menschen schämen sich, wenn sie von einer Sucht betroffen sind, und versuchen, es geheim zu halten.“ Für Angehörige sind die Anzeichen einer Sucht hingegen nur schwer zu erkennen. Ziehen sich die Großeltern zurück, nimmt die Beweglichkeit ab oder stürzen sie häufig, müsse das nicht auf eine Sucht hindeuten, erklärt Arnold. Es könne auch eine Depression, Demenz oder die Nebenwirkung von Medikamenten sein. Mit vermehrter Präsenz bei öffentlichen Veranstaltungen und Fortbildungen wie die für das Sozialwerk Haushalt und Familie Hessen e. V. will die Suchthilfe ihre Ziele im kommenden Jahr erreichen. Positivbeispiele wie bei Rentner Müller sollen kein Einzelfall bleiben. „Nur wer mit offenen Augen das Leben der Senioren betrachtet und ehrlich mit ihnen umgeht , kann auch präventiv handeln“, sagt Arnold.
*Der Name wurde von der Redaktion geändert, das Bild ist fiktiv.