Text Markus Huneke ––– Fotografie
Der Schwerlastkran fährt sanft heran, passgenau legt er die riesige Stahlrolle auf den vorbereiteten Lagerplatz: 30 Tonnen Hightech, ein Coil neben dem anderen. Unter der sorgsam angebrachten Verpackung schimmert das Band hervor, sein matter Glanz, die sauberen Kanten lassen erahnen, dass es sich hier um ein echtes Präzisionsprodukt handelt. Solche Stahlrollen sind in der Regel für den Einsatz in der Automobilindustrie oder anderen Industrien bestimmt, wie etwa der Hausgeräteindustrie, die ebenfalls auf den hochwertigen Flachstahl der Salzgitter Flachstahl GmbH, eines Unternehmens des Salzgitter-Konzerns, setzt.
Was man dem Coil nicht ansieht, ist die produktionstechnische Revolution, die gerade vieles auf den Kopf stellt, was vor dieser Kranfahrt geschieht – und Auswirkungen auch auf die gesamte spätere Verarbeitungskette hat.
ERSTE DIREKTREDUKTION IN VIER JAHREN
Der Fahrplan ist ambitioniert, das hat der CEO der Salzgitter AG, Gunnar Groebler, bei der Vorstellung der neuen Konzernstrategie „Salzgitter AG 2030“ zu Beginn des Jahres noch mal deutlich gemacht. Nicht wie ursprünglich geplant 2045 will der niedersächsische Stahlerzeuger nun komplett auf eine wasserstoffbasierte Produktion von hochwertigem Stahl umgestellt haben, sondern schon zwölf Jahre früher. Als erster Stahlhersteller überhaupt will das Unternehmen alle drei Hochöfen des Konzerns bis 2033 durch sogenannte Direktreduktionsanlagen ersetzen, die statt mit Kohle mit Erdgas und Wasserstoff laufen. 2026 soll die erste Direktreduktionsanlage produktiv sein.
TRANSFORMATION ERFOLGT SCHRITTWEISE
Das ist keine Kleinigkeit: Die Umstellung dieser bis an die verfahrenstechnischen Grenzen entwickelten Produktion auf die neue Technologie ist auch für einen der größten Stahlhersteller in Deutschland mit einer Jahresproduktion von rund 6 Mio. Tonnen Stahl eine Herausforderung. „Die Herstellung von Roheisen aus Eisenerz im Direktreduktionsverfahren ist eine komplett andere als die im Hochofen“, erläutert Phillip Meiser, Vertriebsdirektor der Salzgitter Flachstahl GmbH.
Deshalb erfolgt die Transformation schrittweise bis 2033. Wir sorgen so für die Versorgungssicherheit unserer Kunden und einen kontinuierlichen Betrieb.“ Doch auch beim Salzgitter-Konzern, einem der weltweit effizientesten Stahlhersteller, fallen prozessbedingt immer noch jährlich etwa 8 Mio. Tonnen CO2 an. Um seiner Verantwortung für Gesellschaft und Klima gerecht zu werden, betonte Groebler, hat sich die Salzgitter AG entschieden, neue Wege zu gehen – und die Produktion umzustellen.
Statt mit Kokskohle im Hochofen wird das Eisenerz nun künftig mit Wasserstoff zu Roheisen umgewandelt. Die Direktreduktionsanlagen, in denen dieser Prozess stattfindet, emittieren kein CO2 mehr, sondern Wasser. Dieses Verfahren eröffnet der Stahlproduktion die Möglichkeit, ganz real grün zu werden.
GRÜNER WASSERSTOFF BRAUCHT GRÜNEN STROM
Notwendige Voraussetzung dafür ist genügend grüner – also CO2-frei hergestellter – Wasserstoff. Für grünen Wasserstoff wiederum braucht es grünen – also aus erneuerbaren Energien gewonnenen – Strom. Erst jüngst ist die Salzgitter AG unter anderem eine strategische Partnerschaft mit dem dänischen Energieunternehmen Ørsted eingegangen, einem der grünen Marktführer in der Planung, im Bau und im Betrieb von Offshore-Windparks. „Für die wasserstoffbasierte Erzeugung von Stahl benötigen wir ausreichend Energie. Offshore-Windparks können genügend grüne Energie erzeugen und uns zur Verfügung stellen“, erläutert Phillip Meiser weiter. „Das wird jedoch auch eine ganz neue Infrastruktur brauchen.“
Der Ausbau der Infrastruktur ist ein kritischer Punkt, der das Tempo bei der Transformation entscheidend beeinflussen kann. Unterstützung benötigt der Stahlhersteller – wie die gesamte Branche, die im gleichen Transformationsprozess steckt – nicht nur bei der Errichtung einer neuen Infrastruktur, sondern auch bei den notwendigen Investitionen. „Die Umstellung auf eine CO2-neutrale Produktion wird insgesamt etwa drei bis vier Milliarden Euro kosten. Das ist für die Salzgitter AG allein nicht zu stemmen. Wir benötigen für dieses Projekt auch öffentliche Förderungen“, so Phillip Meiser.
HERAUSFORDERUNG IST GROSSTECHNISCHE ANWENDUNG
Schon länger bereitet das Unternehmen im Projekt SALCOS (für Salzgitter Low CO2 Steelmaking) aktiv Wege für eine emissionsarme Produktion vor. „Wir werden die Emissionen um mehr als 95 % gegenüber dem heutigen Stand senken können – und kommen einer emissionsfreien Produktion damit nahe“, betont Maik Lintl, Verkaufsleiter bei der Salzgitter Flachstahl GmbH. Trotz aller Innovationen: Die notwendigen Technologien sind in Einzelteilen bereits vorhanden. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, sie zu verbinden und auf einen Produktionsumfang zu skalieren, der bisher noch nie realisiert wurde.
Die Chancen fürs Gelingen stehen technisch gesehen gut. Doch ist die technische Seite nur eine Seite der Medaille. Die andere sind die Märkte. Werden sie im Direktreduktionsverfahren nahezu ohne CO2-Emissionen hergestellten Stahl kaufen? „Wir sehen einen großen Bedarf an grünem Stahl. Klar ist aber, dass der über die Direktreduktion hergestellte Stahl zunächst teurer sein wird“, sagt Maik Lintl.
ERSTE ANZEICHEN FÜR MARKTUMSTELLUNGEN
Neben den technischen Produktionsprozessen müssen sich für ein Gelingen der Wende also auch die Märkte umstellen. Erste Anzeichen dafür gibt es bereits. So haben die Mercedes-Benz AG und die Volkswagen AG kürzlich grünen Stahl der Salzgitter Flachstahl GmbH geordert, ebenso wie der Hausgerätehersteller Miele. Der Stahl stammt allerdings noch nicht aus Direktreduktionsanlagen, sondern aus dem Elektroofen am Standort Peine, der Stahlschrott strombasiert zu Rohstahl einschmilzt, der wieder zu neuen Erzeugnissen verarbeitet werden kann.
Vor welchen Herausforderungen die Verarbeiter von Stahl auf der anderen Seite der Produktionskette stehen, zeigt erneut ein Blick ins Coillager der Salzgitter Flachstahl. Das grüne Label auf der sorgsamen Verpackung der Coils weist die Stahlrollen als LOW CO2 – emissionsarm – aus. Ohne Folie könnte niemand zwischen „herkömmlichem“ und CO2 -arm hergestelltem Stahl unterscheiden. Mit anderen Worten: Stahlverarbeiter müssen sich auf das verlassen können, was Hersteller und Zulieferer ihnen an Informationen zu dem georderten Stahlprodukt zur Verfügung stellen. Sie stehen damit vor dem weiteren Aufwand, sie hersteller- und lieferantenübergreifend zu vergleichen.
WO STECKT WIEVIEL REALES CO2 DRIN?
So verbirgt sich bei dem einen Hersteller, wie (künftig) bei der Salzgitter AG, hinter grünem Stahl die reale Transformation des gesamten Stahlherstellungsprozesses, ein anderer gleicht die Emissionen mit Zertifikaten aus, ein Dritter produziert ausschließlich aus Stahlschrott im strombasierten Elektroverfahren. Dabei ist jeder Weg legitim, es gibt keinen Königsweg. Für Stahlverarbeiter macht es die Vielfalt der Wege und Begriffe jedoch schwer. Wo steckt wie viel reales CO2 drin?
Auf diese Fragen werden Stahlverarbeiter künftig Antworten suchen. Eine erste Antwort bekommen sie nun von dem zur Friedhelm Loh Group gehörenden Stahl-Service-Center Stahlo. Schon bisher langjähriger Partner der Salzgitter Flachstahl arbeiten Stahlo und Salzgitter Flachstahl auch in Sachen grüner Stahl strategisch zusammen. Stahlo hat die grüne Transformation der Stahlproduktion früh als bedeutendes strategisches Thema erkannt – und begonnen, konkret darüber nachzudenken, was auf den Markt und seine Kunden zukommt, wenn die Nachfrage nach grünem Stahl wächst. „Stahlo ist eines der bedeutendsten werksunabhängigen Stahl-Service-Center in Deutschland und für uns ein wichtiger strategischer Partner, auch bei grünem Stahl“, sagt Phillip Meiser.
NEUES CO2 - LABEL GIBT KUNDEN ÜBERBLICK
Als erstes und einziges Stahl-Service-Center hat Stahlo nun ein Label für die Auszeichnung von Stahlprodukten entwickelt, mit dem sich Stahlerzeugnisse hinsichtlich der damit verbundenen CO2-Emissionen ganz einfach einordnen lassen. Wie von Haushaltsgeräten bekannt, stuft das Klassifizierungssystem den Stahl in sieben Stufen ein: von A = beste Emissionsklasse bis G = schlechteste Emissionsklasse. Farblich unterschieden, ist damit auf einen Blick ersichtlich, wie es um den Stahl CO2-technisch bestellt ist.
„Wir wollen mit dem System keiner offiziellen Klassifizierung vorgreifen“, erläutert Oliver Sonst, CEO von Stahlo. „Doch bis es ein solches System gibt, wollen wir unseren Kunden schon heute dabei helfen, sich im Thema Green Steel besser zurechtzufinden.“
Neben den sieben Emissionsklassen des Systems geben zusätzlich zwölf visuelle Icons darüber Auskunft, wie der betreffende Stahl hergestellt wurde. Ein stilisiertes Blatt steht etwa für die Verwendung von grünem Strom, ein Blitz für die Verwendung von Mischenergie usw. Mit dem System kann der für die Produktion von Stahl angewendete Rohstoff- und Verfahrensmix somit einfach nachvollzogen werden. Das Label, das das Unternehmen mit seinem großen Erfahrungsschatz und seinem weitgespannten Netzwerk in Eigenregie aufgesetzt hat, soll keine juristenfeste Zertifizierung bieten, sondern eine schnelle Vorstellung geben.
„Mit nur zwölf Elementen schaffen wir einen Überblick, der sonst nur durch intensives Studium der Dokumente zu bekommen ist. Das spart unseren Kunden erheblich Zeit und Aufwand“, so Oliver Sonst. „Stahlo ist dem Markt damit derzeit einen großen Schritt voraus. Die Reaktion unserer Kunden zeigt, dass wir damit einen Nerv getroffen haben: Wir haben ein unglaubliches Feedback darauf erhalten“, unterstreicht der Stahlo Geschäftsführer.
Erzeugnisse mit C-Label der Salzgitter AG – und damit unter 500 kg CO2 pro Tonne Stahl – sind bei Stahlo schon in diesem Jahr erhältlich, A+-Erzeugnisse des Konzerns voraussichtlich ab 2026, wenn die erste Direktreduktionsanlage erfolgreich in Betrieb genommen wurde.